Das war wieder mal eine schwere Geburt. Will sagen: erst spät im Buch entfaltet sich die wahre Stärke. Zu Beginn treffen wir Herrn Verloc, der als Geheimagent für eine namenlose Gesandschaft arbeitet. Außerdem verkehrt er in Anarchistenkreisen und ist verheiratet mit Frau Verloc, die ihre schwerfällige Mutter und ihren geistig behinderten Bruder Stevie mit in die Ehe gebracht hat.
Herr Verloc bekommt nun von der Gesandschaft den Auftrag, einen Anschlag auf das Observatorium in Greenwich zu verüben. So einen Anschlag hatte es ein paar Jahre zuvor tatsächlich gegeben. Auf den (vielen) kommenden Seiten beobachten wir, was die Anarchisten reden, was die Polizisten für Leute sind und werden in die Geheimnisse der Sprengstoffzündung eingeweiht. Das zieht sich. Und dann schließlich, als die Explosion in Greenwich vorüber ist, geht es richtig los. Dann werden die üblen Geschichten ausgepackt und wir erfahren, dass Frau Verloc Herrn Verloc nur geheiratet hat, weil sie ihrer Mutter und ihrem Bruder ein Heim geben musste. Er ist aber auch nicht von schlechten Eltern. Schließlich hat er seine Geheimdienstkarriere auch vor ihr geheim gehalten. Er redet allerdings im Schlaf. Es ist spannend dabei zuzuschauen, wie er in seiner Eitelkeit nie auf die Idee kommt, dass sie ihn nicht lieben könnte und wie sie, nach sieben Jahren Ehe, mitkriegt, dass sich die Zeiten geändert haben. Für einen kurzen Moment sieht es sogar noch mal so aus, als würde sie das große Glück finden.
Was also den Spionageroman ausmacht überzeugt mich gar nicht, meine Gedanken driften unweigerlich ab, wenn sich Botschafter mit Polizeipräsidenten oder Geheimagenten mit Gesandschaftssekretären unterhalten. Die persönlichen Geschichten des Ehepaares Verloc aber gehen mir nahe. Außerdem toll: das Londoner Licht, je nach Situation, mal golden und mal eklig:
Er trat in eine Wüste hinaus, eine Unendlichkeit von fettigem Schleim und feuchtem Mörtel, in der hier und dort Lampen aufragten, und die eingehüllt, niedergedrückt, gewürgt und erstickt wurde von der Schwärze der feuchten Londoner Nacht, die aus schmierigem Ruß und einigen Tropfen Wasser zubereitet wird. (Seite 173 in der Sonderausgabe des Fischer Taschenbuch Verlages von 2007)
Auch die Perspektive ist spannend. Je nach Erzählschwerpunkt nehmen wir die Perspektive Verlocs, des Polizeidirektors, des Hauptinspektors, von Frau Verloc und zum Schluss des Anarchisten Ossipon ein. So gehen wir mit Herrn Verloc und ahnen nichts von den wahren Gefühlen seiner Frau und erst als wir ihre Perspektive einnehmen wird uns einiges in der Ehe klar. Leider ist es für sie da schon zu spät und das erleben wir durch die Wahrnehmung Ossipons:
Er sah diese Frau, die sich wie eine Kobra um ihn gewickelt hatte und die er niemals würde abschütteln können. Sie war nicht tödlich, sie war der Tod selber – der Gefährte des Lebens. (Seite 322)
Kurz und gut: Das Buch zieht sich, nimmt aber gegen Ende Fahrt auf. Ich würde es trotzdem nicht nochmal lesen. Besonders viele Alternativen aus dem Jahr 1907 wollen mir allerdings auch nicht einfallen.