1907: Geheime Geheimnisse im schmutzigen London

Das war wieder mal eine schwere Geburt. Will sagen: erst spät im Buch entfaltet sich die wahre Stärke. Zu Beginn treffen wir Herrn Verloc, der als Geheimagent für eine namenlose Gesandschaft arbeitet. Außerdem verkehrt er in Anarchistenkreisen und ist verheiratet mit Frau Verloc, die ihre schwerfällige Mutter und ihren geistig behinderten Bruder Stevie mit in die Ehe gebracht hat.

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Herr Verloc bekommt nun von der Gesandschaft den Auftrag, einen Anschlag auf das Observatorium in Greenwich zu verüben. So einen Anschlag hatte es ein paar Jahre zuvor tatsächlich gegeben. Auf den (vielen) kommenden Seiten beobachten wir, was die Anarchisten reden, was die Polizisten für Leute sind und werden in die Geheimnisse der Sprengstoffzündung eingeweiht. Das zieht sich. Und dann schließlich, als die Explosion in Greenwich vorüber ist, geht es richtig los. Dann werden die üblen Geschichten ausgepackt und wir erfahren, dass Frau Verloc Herrn Verloc nur geheiratet hat, weil sie ihrer Mutter und ihrem Bruder ein Heim geben musste. Er ist aber auch nicht von schlechten Eltern. Schließlich hat er seine Geheimdienstkarriere auch vor ihr geheim gehalten. Er redet allerdings im Schlaf. Es ist spannend dabei zuzuschauen, wie er in seiner Eitelkeit nie auf die Idee kommt, dass sie ihn nicht lieben könnte und wie sie, nach sieben Jahren Ehe, mitkriegt, dass sich die Zeiten geändert haben. Für einen kurzen Moment sieht es sogar noch mal so aus, als würde sie das große Glück finden.

Was also den Spionageroman ausmacht überzeugt mich gar nicht, meine Gedanken driften unweigerlich ab, wenn sich Botschafter mit Polizeipräsidenten oder Geheimagenten mit Gesandschaftssekretären unterhalten. Die persönlichen Geschichten des Ehepaares Verloc aber gehen mir nahe. Außerdem toll: das Londoner Licht, je nach Situation, mal golden und mal eklig:

Er trat in eine Wüste hinaus, eine Unendlichkeit von fettigem Schleim und feuchtem Mörtel, in der hier und dort Lampen aufragten, und die eingehüllt, niedergedrückt, gewürgt und erstickt wurde von der Schwärze der feuchten Londoner Nacht, die aus schmierigem Ruß und einigen Tropfen Wasser zubereitet wird. (Seite 173 in der Sonderausgabe des Fischer Taschenbuch Verlages von 2007)

Auch die Perspektive ist spannend. Je nach Erzählschwerpunkt nehmen wir die Perspektive Verlocs, des Polizeidirektors, des Hauptinspektors, von Frau Verloc und zum Schluss des Anarchisten Ossipon ein. So gehen wir mit Herrn Verloc und ahnen nichts von den wahren Gefühlen seiner Frau und erst als wir ihre Perspektive einnehmen wird uns einiges in der Ehe klar. Leider ist es für sie da schon zu spät und das erleben wir durch die Wahrnehmung Ossipons:

Er sah diese Frau, die sich wie eine Kobra um ihn gewickelt hatte und die er niemals würde abschütteln können. Sie war nicht tödlich, sie war der Tod selber – der Gefährte des Lebens. (Seite 322)

Kurz und gut: Das Buch zieht sich, nimmt aber gegen Ende Fahrt auf. Ich würde es trotzdem nicht nochmal lesen. Besonders viele Alternativen aus dem Jahr 1907 wollen mir allerdings auch nicht einfallen.

Wasser, Seefahrt, Abenteuer – 9 Lesetipps für den heißen Sommer

von Marion KörnerDie Sommer erreicht seinen Zenit. Freunde und Nachbarn sind im Urlaub, waren schon im Urlaub oder fahren gleich in den Urlaub. Für alle, die wie ich in Gedanken verreisen oder den Sommer noch etwas verlängern wollen, gibt es hier 9 lesenswerte Romane und Geschichten rund um Schiffe, Boote und das Meer.

1. Überfahrt. Eine Liebesgeschichte von Anna Seghers:

„Mit einer Abfahrt ist nichts zu vergleichen. Keine Ankunft, kein Wiedersehen. Man läßt den Erdteil endgültig hinter sich zurück. Und was man dort auch erlebt hat an Leiden und Freuden, wenn die Schiffsbrücke hochgezogen wird, dann liegen vor einem drei reine Wochen Meer.“

Die „Norwid“ schippert von Bahia nach Europa. Der Arzt Ernst Triebel erzählt von Maria Luise, seiner Jugendliebe. Es wird die Erzählung seines Lebens.

2. Homo Faber von Max Frisch

Wie man eine Woche auf einem solchen Schiff verbringt, konnte ich mit nicht vorstellen, ich ging hin und her, Hände in den Hosentaschen, einmal geschoben vom Wind, dann mühsam, so daß man sich nach vorn lehnen musste mit flatternden Hosen, ich wunderte mich, woher die anderen Passagiere ihre Sessel hatten.

Der Ingenieur Walter Faber trifft auf einer Schiffspassage von Manhattan nach Europa die junge Sabeth, die ihn stark an seine Jugendliebe Hannah erinnert. Sie machen sich gemeinsam auf zu Sabeths Mutter nach Griechenland. Eine Reise, die verhängnisvoll enden soll.

3. Schiffbruch mit Tiger von Yann Martel

Der halbwüchsige Inder Pi Patel ist einziger menschlicher Überlebender eines Schiffsunglücks. Mit ihm im Rettungsboot sitzen ein Zebra, ein Orang Utan, eine Hyäne und, wie könnte es anders sein, ein Tiger. Nach 227 Tagen auf See landet das Boot in Mexiko und Pi kann die Geschichte einer außergewöhnlichen Seefahrt erzählen. Unbedingt lesenswert. Letztes Jahr ist das Buch mindestens ebenso sehenswert von Ang Lee verfilmt und mit vier Oscars ausgezeichnet worden.

4. Der alte Mann und das Meer von Ernest Hemingway

Ist das Buch schlechthin von Hemingway. Der kubanische Fischer Santiago ringt mit einem riesigen Fisch, dem Fang seines Lebens. Es ist der große Kampf des Menschen mit der Natur.

5. Moby Dick von Herman Melville 

Wenn schon von gigantischen Fischen die Rede ist, darf Moby Dick natürlich nicht unterschlagen werden. Melville erzählt auf über 1000 Seiten die Geschichte der Jagd auf den legendären weißen Wal. Im Mittelpunkt steht der von Hass zerfressene Kapitän Ahab, der Wal selbst bleibt hauptsächlich Phantom. Da sich die Lektüre etwas hinzieht, sei sie hier nur für Schnellleser oder Leute mit langen Ferien empfohlen. Alle anderen kommen vielleicht hier auf ihre Kosten.

6. Schachnovelle von Stefan Zweig

Die Rahmenhandlung von Stefan Zweigs bakanntestem Werk spielt auf einer Schiffspassage von New York nach Buenos Aires.  An Bord ist auch der Schachweltmeister Mirko Czentovic, der Schachpartien gegen alle Anwesenden spielt. Das erregt die Aufmerksamkeit von Dr. B. Dieser war von den Nationalsozialisten inhaftiert und isoliert worden. Um in der Einsamkeit nicht dem Wahnsinn anheim zu fallen, begann Dr. B in Gedanken Schachpartien gegen sich selbst und brachte es zu erstaunlicher Meisterschaft.

7. Robinson Crusoe von Daniel Defoe

Die Geschichte von Robinson Crusoe und Freitag ist so bekannt, dass man meinen könnte, jeder hätte das Buch, das als der erste englische Roman gilt, gelesen. Das ist aber (nach einer aktuellem, nicht repräsentativen Umfrage)  keineswegs der Fall. Trotzdem ist der Klassiker jede Seite seiner Lektüre wert.  Im Originaltitel erfahren wir gleich alles, was wir wissen müssen: The Life and Strange Surprizing Adventures of Robinson Crusoe of York, Mariner: Who lived Eight and Twenty Years, all alone in an un-inhabited Island on the Coast of America, near the Mouth of the Great River of Oroonoque; Having been cast on Shore by Shipwreck, wherein all the Men perished but himself. With An Account how he was at last as strangely deliver’d by Pirates. Written by Himself. („Das Leben und die seltsamen überraschenden Abenteuer des Robinson Crusoe aus York, Seemann, der 28 Jahre allein auf einer unbewohnten Insel an der Küste von Amerika lebte, in der Nähe der Mündung des großen Flusses Oroonoque; durch einen Schiffbruch an Land gespült, bei dem alle außer ihm ums Leben kamen. Mit einer Aufzeichnung, wie er endlich seltsam durch Piraten befreit wurde. Geschrieben von ihm selbst.“). Wem das jetzt zu angestaubt ist, dem sei das Buch Mr. Cruso, Mrs. Barton & Mr. Foe (engl. Originaltitel Foe) des südafrikanischen Schriftstellers J. M. Coetzee ans Herz gelegt. Coetzee erzählt die Geschichte neu. Zu Robinson und Freitag gesellt sich eine Frau, die nun die Geschehnisse aus ihrer Sicht erzählen möchte.

8. Reise um die Erde in 80 Tagen von Jules Verne

Der Roman von 1873 ist ein Klassiker der Reiseromane. Wie bekannt sein dürfte, wettet Phileas Fogg in London mit den Mitgliedern des Reform Clubs darum, dass es ihm gelingen werde, in 80 Tagen um die Welt zu reisen. Da das Flugzeug als Transportmittel noch nicht in Frage kam, legten Fogg und sein Diener Passepartout weite Teile der Reise mit dem Schiff zurück. Immer verfolgt vom übereifrigen Detektiv Fix, der in Fogg den Räuber eines Vermögens aus der Bank of England zu erkennen glaubt.

9. Das Rätsel der Sandbank von Erskine Childers

Der leidenschaftliche Segler „Davies“ und der britische Diplomat „Caruthers“ segeln, vorgeblich auf Entenjagd, durch friesische Wattenmeer. Dabei entdecken sie Invasionspläne des deutschen Militärs. Der Roman hinterließ in seiner Zeit (also vor dem ersten Weltkrieg) einen nachhaltigen Eindruck. Die Invasionspläne waren so glaubhaft geschildert, dass die Engländer in der Folge tatsächlich ihre Seeabwehr verstärkten. Erskine Childers errang mit diesem Buch seinen Ruf als Vater des modernen Spionageromans. Das Rätsel der Sandbank wurde 1903 veröffentlicht und ist das aktuelle Buch meiner Lesereihe.

1903: Segeln in der Nordsee – Das Rätsel der Sandbank

Raetsel der Sandbank FilmbildIrgendwann früher dieses Jahr war ich auf Familienbesuch an der Felnsburger Förde. Eines Nachmittags übergab man uns eine DVD-Box von Das Rätsel der Sandbank. Während ich auf das Paket stierte wie ein Schwein ins Uhrwerk, geriet mein Freund in helle Aufregung und Kindheitserinnerungen wurden aufgerollt. Der Vierteiler lief in den Achtziger Jahren im Westfernsehen und die ganze Familie hatte ihn offenbar damals verfolgt. Warum nur hatte ich noch nie von dem vermeindlichen Klassiker gehört? Tatsächlich ist mir das Buch The Riddle of the Sands während meines Anglistik-Studiums nicht untergekommen, obwohl sowohl Autor Erskine Childers als auch Buch selbst eine äußerst bemerkenswerte Geschichte haben.

Nach 10 Folgen der Fernsehserie, inklusive ausführlichsten Segelaufnahmen in der Nordsee und Ohrwurm-Erkrankung durch den schrägen 80er-Titelsong, bin ich nun umso mehr gespannt auf das Buch.

Zu Beginn befinden wir uns im London von 1902 mit Mr. Caruthers, der im Außenministerium arbeitet. Die Beschreibung des Saisonendes liegt sehr nah an der, die Henry James in Die Flügel der Taube gibt. So ist der Übergang zur neuen Lektüre für mich fließend. Caruthers hat aus dienstlichen Gründen zunächst keinen Urlaub bekommen und steht nun vor dem Dilemma, dass die ganze gute Gesellschaft ihre Ferien nun schon anderswo begonnen und beendet hat. Nur deshalb nimmt er schließlich die Einladung seines ehemaligen Kommilitonen Arthur Davies an, mit ihm im September in der Ostsee zu segeln und Enten zu jagen. Der englische Originaltitel The Riddle of the Sands: A Record of Secret Service verrät, dass im Buch Geheimdienst-Verwicklungen zu erwarten sind. Auch ist es dieses Buch, dass dem Autor Erskine Childers seinen Ruf als Vater des modernen Spionageromans eingebracht hat. Man darf also gespannt sein.

1902: Die Landkarte der Taube

Millie ist krank. Es wird – ganz typisch – gar nicht erst direkt gesagt und lange Passagen lassen es mich immer wieder vergessen. Schon in der Schweiz geht es ihr irgendwie nicht gut und deswegen möchte Millie auch so gern nach London. Dort angekommen, geht sie aber erst nach Wochen zum Arzt. Der ist wohl ganz toll und rät ihr, ihr Leben so richtig auszukosten. Woraus man dann wohl schließen darf, dass sie es nicht mehr lange machen wird. Ihre Begleiterin Susan Sheperd weiht Millie nicht ein. Bei ihrem ersten Arztbesuch lässt sie sich von Kate begleiten, der sie aber wiederum nichts über das Ergebnis der Untersuchungen erzählt. Der Leser erfährt davon auch nichts. Das macht mich noch ganz verrückt. Haufenweise Sachen werden in dem Buch einfach nicht erzählt. Vieles wird angedeutet, indirekt erzählt oder wir erfahren viel später hintenrum etwas. Das nützt dem Leser, der versucht dem Plot zu folgen aber herzlich wenig!

Da ist ja auch noch die verwickelt verzwickte Klatsch-und-Tratsch-Geschichte mit Millie, Kate und dem jungen Mann. Die Saison in London neigt sich dem Ende und immer noch hat sich für Millie keine Gelegenheit ergeben ihrer Freundin Kate anzuvertrauen, dass sie mit Merton Densher bekannt ist. Tante Maud versucht nun wiederum Millie einzuspannen, um herauszufinden, ob Densher mittlerweile aus den Vereinigten Staaten zurück ist. Die Tante will natürlich nicht, dass er ihr irgendwie bei ihren Verheiratungsplänen für Kate dazwischenfunkt. Die Situation ist für Kate und Millie langsam ziemlich spannend sein, da ja von nun an im immer die Frage im Raum steht, warum nicht eher von Densher gesprochen worden ist. Die Spannung für den Leser hält sich nach wie vor in Grenzen. Leider. Nach 200 Seiten ist der Scheitelpunkt der Schwarte noch nicht erreicht.

Im Rahmen meiner umfangreichen Überlegungen, ob ich dem Buch nicht doch noch etwas abgewinnen könnte, habe ich aber eine schöne Entdeckung gemacht: Peter Biggins Maps of the Classics-Blog. In dort gibt es einen ganzen Haufen Landkarten zu Klassikern von der Illias bis zu Kafka. Und eben auch zu Die Flügel der Taube.  Super Sache, solche Karten sollte es zu allen Büchern geben.

1902 – To read or not to read …

Was bisher geschah: Am Beginn des Romans begegenen wir Kate Croy, einem jungen Londoner Mädchen aus offenbar nicht so guten Verhältnissen, das mit der Entscheidung ringt, ob sie ihr Leben unter desolaten Umständen mit ihrer Familie verbringen oder sich in Obhut ihrer reichen Tante Maud begeben soll, was aber bedeutet, dass sie ihrer Familie den Rücken kehren müsste. Kate geht auf das Angebot der Tante ein, weil sie so auch ihren Angehörigen weiterhelfen kann, nicht zuletzt findet sie auch einigen Gefallen an dem Luxus, den ihr das Leben bei der Tante bietet. Wir sehen außerdem, dass Kate eine zurückhaltende Liason mit dem Schreiberling Merton Densher hat. Die beiden sind verliebt, aber die Verlobung kommt nicht recht in die Gänge, weil irgendwie klar ist, dass Densher nicht die Art von guter Partie ist, die sich die Tante für Kate vorgestellt hat. Merton Densher wird dann dienstlich auf Amerikareise geschickt und die beiden verabschieden sich mit viel Schmalz, heimlicher Verlobung und Liebesschwüren.

Ein paar Seiten weiter hinten unternimmt die junge New Yorkerin Millie Theale mit ihrer Gesellschafterin Mrs. Stringham eine Europareise. Millies Familie ist gestorben. Jetzt ist sie allein, furchtbar reich und rastlos. Sie scheint sich mit Mrs. Stringam ganz gut zu verstehen. Die ältere Dame ist aus Boston, Witwe und ist in der Schweiz zur Schule gegangen. An diese Zeit erinnert sie sich jetzt zurück und auch an ihre alte Schulkameradin Maud. Was natürlich die gleiche Maud ist, die wir aus London kennen. Schnell reisen die beiden nach England und lassen sich dort in die Gesellschaft einführen. Der Clou ist, dass Merton Densher auf seiner Amerikareise auch Millie Theale kennengelernt hat und sie sich irgendwie ganz gut verstehen.

Auch nach 160 Seiten und dem Wechel der Übersetzung ist die Geschichte immernoch sehr langsam und einfach nicht besonders aufregend.  Die Übersetzung von Ana Maria Brock ist wesentlich lesbarer und lebendiger, was aber am Buch als solches leider nicht viel ändert. Aber dann dauert es eben noch eine Weile, es zu lesen. Auf http://www.goodreads.com gab es gerade eine Infografik zum Thema Lektüreabbruch. Die meisten Menschen hören aus zu lesen, wenn die Lektüre „slow“ und „boring“ ist (Bingo!). Knapp 16 Prozent entscheiden das bevor sie 50 Seiten gelesen haben, etwa weitere 35 Prozent lesen bis zu 100 Seiten (Bingo Bingo!). Circa 10 Prozent der Hinschmeißer tun das auch noch weiter hinten.  Immerhin 38,1 Prozent der Befragten gaben an „I always finish, no matter what“. Ich gebe einem Buch normalerweise um die 50 Seiten und entscheide dann, ob es eine Bereicherung für mich ist. Abbruch ist nun keine Option. Lesegeschwindigkeit verringern ist eigentlich auch kontraproduktiv, dann dauert es ja noch länger. Nun denn, liebes Buch, komme was wolle, ich lese dich jetzt durch!